Geschriebenes

«Das ist doch kein Leben»
erschienen in: Berner Zeitung, 21.6.2013 und auf bernerzeitung.ch

Gestatten: Rolf Horst Seiler (70), administrativ Versorgter. Einer von schätzungsweise 2000 im Kanton Bern, die zu den 25 000 Opfern von Zwangsmassnahmen schweizweit gehören.  Als Halbwüchsiger wurde er von zu Hause weggebracht, lebte Jahrzehnte im Wald. In den 80er-Jahren attestierte ihm ein Arzt eine Behinderung. Seither kämpft er um seine Rehabilitierung.

Das dicke Couvert zieht Rolf Horst Seiler an einem Freitag aus seinem Briefkasten. Es enthält mehrere Papiere, die sich der 70-Jährige in Ruhe ansehen will. Sein Herz schlägt schneller, seit er einen Blick auf den Absender geworfen hat: Die Post stammt von der Opferhilfe, an die ihn das Büro von Alt-Ständerat Hansruedi Stadler verwies. Ihn hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga zum Delegierten für die Anliegen der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ernannt. Seiler fühlt ein Gefühl der Genugtuung in sich aufsteigen. «Darauf», wird er später sagen, wenn er wieder einen klaren Gedanken fassen kann, «darauf habe ich ein Leben lang gewartet.»

Rolf Horst Seiler ist einer von ihnen, einer der Menschen, die die Macht des Staates härter als alles andere zu spüren bekommen hatten. Seit 3 Jahren weiss er auch, dass er dieses Schicksal mit anderen teilt – damals nämlich haben sich Vertreter von Kantonen und Bund an einem Gedenkanlass bei den Betroffenen für die Zwangsmassnahmen entschuldigt. Diese Entschuldigung hat auch den Mann, der ebenso lange mit seinen Geissen und einer Katze in Seeberg lebt, erreicht. Und ihn in der Überzeugung bestärkt, die ihn selbst in den dunkelsten Stunden nie losgelassen hat: Ihm wurde unrecht getan.

Abgeholt und fortgeschickt

Seine Leidensgeschichte beginnt in jungen Jahren. Rolf Horst, zweites von drei Kindern, geboren während des Zweiten Weltkrieges in Polen, wächst nach der Flucht in die Schweiz im Solothurnischen und im Aargau auf. Er ist ein Jugendlicher mit auffälligen Störungen: Nach einer vermeintlichen Hirnhautreizung im Alter von 9 Jahren ist er verändert, wirkt verlangsamt, unzuverlässig. Er schläft nachts nicht, fällt tagsüber immer wieder unkontrolliert hin. Kann sich kaum konzentrieren, woran nicht nur die Lehre, sondern auch zig andere Arbeitsversuche scheitern. Als «arbeitsscheuer Nichtstuer» abgestempelt, wird er mit 18 Jahren von zu Hause abgeholt. Die Erinnerung an diesen Moment treibt dem heute 70-Jährigen die Tränen in die Augen; er ringt um Worte. «Es klingelte um sechs Uhr morgens. Zwei Polizisten standen vor der Türe», erzählt er. «Sie fragten: Ist Rolf Horst zu Hause. Sie hatten eine Verfügung bei sich.» Pause. «Darin stand, dass ich ab sofort das Elternhaus nicht mehr betreten und mit Eltern, Geschwistern und Verwandten nicht Kontakt aufnehmen dürfe.» Den Plastiksack in der Hand, in den die Mutter schnell ein paar Unterhosen und Hemden gepackt hatte, habe er sie gefragt: «Mutter, warum muss ich mit? Ich habe doch gar nichts getan!?» Seine Mutter habe ihm zugeredet: Geh, es regelt sich dann schon von selbst. Die beiden Polizisten brachten ihn auf die Wache. «Da sagten sie mir: Bub, wenn wir dich daheim erwischen, bringen wir dich in eine Arbeitserziehungsanstalt. Geh arbeiten!»

Geissen als treue Begleiter

So kam es, dass der 18-Jährige auf der Strasse landete. Ohne Geld, ohne Papiere, nach den damaligen Verhältnissen noch nicht einmal volljährig. Und überdies arbeitsunfähig, was ein Gutachten erst 23 Jahre später belegte. «Man hat mich einfach ausgesetzt.» Die erste Nacht im Freien, die hat er nicht vergessen. Mit dem Zug kam er von Aarau nach Olten, wo er sich in einem leeren Güterwagen ausruhen wollte. Ein Arbeiter entdeckte ihn und jagte ihn mit Schimpf und Schande davon. «Ich kam mir vor wie ein Verbrecher.» Seiler realisierte, dass er nichts mehr galt. Und kehrte den Menschen den Rücken. Er ging in den Wald. Hier sollte er fast 30 Jahre bleiben – zwischen Schwarzwald und dem Wallis, immer unterwegs. «Alles, was ich wollte, war meine Ruhe.» Eine halb verhungerte Geiss wurde seine Begleiterin. Seine Geissen begleiteten ihn durchs halbe Leben. «Sie gaben mir die Kraft, weiterzumachen.» In seiner Situation im Wald, von jeglicher Lebensgrundlage abgeschnitten, entwickelte der Vertriebene Überlebensstrategien. Auf Baustellen sammelte er Pfandflaschen ein und nahm hie und dort Material für Baumhütten mit. Im Winter ging er in die Kanalisation, wenn die Kälte seinen Körper mit beissenden Schmerzen überzog. Immer mal wieder auch in ein Gasthaus, eine Pension. Geld, um für den Aufenthalt zu bezahlen, hatte er nicht. Ausweisen konnte er sich nicht. Also kam die Polizei – und das Ganze ging von vorne los. Auch klaute er gemietete Autos und verkaufte sie im Ausland weiter, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. «Ich wurde kriminell», sagt Rolf Horst Seiler rückblickend. «Aber hatte ich denn eine Wahl?»

Einmal «lebenslänglich»

Aufgegriffen wurde er Hunderte Male. Aufsässig, frech und uneinsichtig wirkt er, eckt mit seinen Antworten an, wird nicht ernst genommen. «Ich konnte nicht anders», sagt Seiler. In einem Heim für Schwersterziehbare war er, in einer Psychiatrie ebenso, wegen Verhaltensstörungen. Lange Jahre hat er einen Vormund. Alles in allem sass er während 15 Jahren im Gefängnis und in U-Haft. «Ungefähr», sagt er. Einmal «lebenslänglich» hat der Mann abgesessen, der von der Hand in den Mund lebte. Wegen Zechprellerei, Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung – die Liste ist lang, und Seiler ist in Justizkreisen bekannt wie ein bunter Hund. «Heute weiss ich, dass das als Teil einer Handlung im Notstand hätte straffrei ausgehen müssen», sagt er. Weil die finanzielle Grundlage für eine Existenz gänzlich fehlte, musste er sich selbst eine schaffen. «So wurde ich doppelt bestraft.» Von seiner Unschuld war er selbst stets überzeugt. Und ist es heute noch. «Das Ganze ist ein irrsinniges Unrecht», erklärt er. «Dieses Empfinden hat mich am Leben gehalten.» Weil er immer daran geglaubt habe, dass alles eines Tages auffliegen werde. Seine Geschichte füllt zig Aktenordner. Und das, obschon Horst Seiler nur einen Bruchteil der Dokumente hat, die ihn betreffen.

Fehldiagnose wird korrigiert

Erst 1984 erhält er eine Diagnose. Der Befund eines Basler Arztes attestiert ihm eine hirnorganische Leistungsstörung und damit eine eindeutige Behinderung. Es stellt sich heraus, dass die Diagnose, die man ihm im Alter von 9 Jahren stellte, falsch war. Horst Peter Seiler hatte damals eine schwere Hirnhautentzündung erlitten, die bleibende Schäden hinterlassen hat. Seither erhält Rolf Horst Seiler eine AHV-Minimalrente. Dazu Ergänzungsleistungen. Man sollte meinen, dass die Erklärung für seine Arbeitsunfähigkeit auch eine Klärung seiner finanziellen und existenziellen Verhältnisse nach sich gezogen hat. Doch weit gefehlt. Immer wieder wird die Rente ausgesetzt, immer wieder wechselt er den Wohnort, weil Betreibungsbeamte und Polizisten sich die Klinke in die Hand geben. Oder weil ihm seine kriminelle Vergangenheit, sein Ruf voraus- und hinterhereilen. 3 Jahre nun lebt er in Seeberg. Seither ist es etwas ruhiger geworden. Diesen Umstand schreibt Seiler der Diskussion um die öffentliche Entschuldigung und die Entschädigungen für administrativ Versorgte wie ihn zurück. Die Umstände, unter denen er sein Leben verbracht hat, sind aber durch nichts zu entschädigen. «Sie müssen sich das mal vorstellen», sagt er. «Die Behörden wussten, dass mit mir etwas nicht stimmt. Statt den Hintergrund meiner Behinderung abzuklären, hat man mich menschenunwürdigen Zuständen ausgesetzt.» Dazu gehört auch, dass man ihm mehrfach mit Zwangskastration gedroht habe, wenn er sich mit dem Gedanken tragen sollte, sich mit Frauen einzulassen. «Das ist doch kein Leben.»

Seine Tochter kennt er nicht

Eine grosse Liebe hatte er, sie hiess Käthy. Die beiden lernten sich auf dem Flugplatz Birrfeld kennen, wo sie arbeitete. «Sie war eine wunderbare Frau. Das mit uns hätte funktioniert, wenn uns nicht übel mitgespielt worden wäre», sinniert Seiler. Es ging lange gut – so lange, bis das Paar Ende der 70er-Jahre das Aufgebot bestellen wollte. «Auf der Gemeinde liess man uns drei Stunden warten», erzählt Seiler. Auch der Pfarrer sei unabkömmlich gewesen. Geheiratet haben sie schliesslich aber nicht, weil ihre Familie sich dagegengestellt hatte.

Die gemeinsame Tochter kam 1980 in Brugg im Spital auf die Welt. Ihre Eltern wollten, dass er die Beziehung abbricht. So gingen die beiden auseinander, das Kind wurde zwangsweise zur Adoption freigegeben. «Ich musste sie und das Kind im Stich lassen.» Seine Tochter hat er nie gesehen. Ob sie überhaupt weiss, wer ihr Vater ist? «Entweder ist sie mit dem Glauben aufgewachsen, dass ich ein Vagant bin», mutmasst Seiler. «Oder sie weiss gar nicht, dass es mich gibt.» Ihm werde bis heute untersagt, sie zu kontaktieren. «Das wäre mein grösster Wunsch», sagt der Vater. «Sie zu sehen.»

Rolf Horst Seiler besieht sich die Post, die er an diesem Freitag erhalten hat. Was drinsteht, spielt für ihn eigentlich keine Rolle. Er glaubt auch so, endlich die Anerkennung für ein verpasstes Lebens in den Händen zu halten. Er sollte sich täuschen.

3 thoughts on “Geschriebenes”

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